Alles hat irgendwann mal ein Ende. Manches geht dahin mit Abschieds-Fanfare und großem Tamtam, anderes wiederum sang- und klanglos, ohne großes Aufsehen. Für die einen ist es ein Drama und Verlust, für andere nur eine Randnotiz begleitet mit einem Schulterzucken. Was bleibt, ist die Erinnerung.
Als ich 1977 im Alter von 14 Jahren anfing Gitarre zu spielen, gab es in der Innenstadt von Hanau vier Musikgeschäfte: Musikhaus Bayer, Klenk, Bäumer und Leslie's Guitar Village. Jedes Geschäft hatte seine Besonderheiten und war ein Besuch wert. Bayer war der größte Laden mit zwei Etagen. Im Erdgeschoss wurden Gitarren, Verstärker und Schallplatten verkauft, im Keller Klaviere, Flügel und elektrische Pianos. Klenk war ein relativ kleiner Laden, der sich vorwiegend auf klassische Gitarren spezialisierte. Bäumer war ebenso klein, hatte aber ein buntgemischtes Angebot, bei dem es oft das eine- oder andere Schätzchen zu finden gab. Leslie's Guitar Village war die Ausnahme. Allein der Name stach heraus und war Programm, denn was es dort zu kaufen gab, konnte man teilweise in ganz Deutschland nicht finden.
Leslie eröffnete bereits 1974 und von Anfang an gaben sich lokale und landesweite Musiker-Größen die Türklinke in die Hand. Der Laden war gestylt wie ein Western-Saloon, mit einer Holztheke, wo die Kasse stand, einer Doppelschwingtür in das Büro dahinter und neben den vielen Markengitarren an der Wand, gab es jede Menge scharfe Schusswaffen, darunter ein Colt Army Model 1860 in einem wunderschön gearbeiteten Holster und eine Model 94 Winchester Classic. Es gab Fotos aus dem wilden Westen und andere Memorabilia aus der Zeit der Cowboys und Indianer. Leslie hatte die besten Gitarren und Verstärker, die man damals bekommen konnte, das meiste davon Made in USA, UK oder Canada. Vieles davon war gebraucht, da Leslie Instrumente in Zahlung nahm. Da gab es z.B. die alte pre war Martin 00045, eine Gitarre, die vor allem durch Joan Baez große Berühmtheit erlangte. Oder die teuerste Gitarre des kanadischen Herstellers Larrivée, dermaßen mit Perlmutt-Einlagen überzogen, dass man eine Sonnenbrille aufziehen musste, wenn man sie eingehend betrachten wollte. Von allen Gitarren, die es dort zu kaufen gab, sind mir diese beiden besonders gut in Erinnerung geblieben, da sie bei einem Einbruch gestohlen wurden und erst Jahre später wieder auftauchten. Die Story dahinter ist zum einen ziemlich rätselhaft, zum anderen recht unterhaltsam. Kurzfassung: Da gab es diesen Kunden, ein katholischer Priester, der sich irgendwann dazu entschließ einzubrechen und alle Schätzchen, auf die er ein Auge geworfen hatte, mitzunehmen. Er lagerte sie jahrelang im Keller seiner Kirche, bis zu dem Tag, als alles aufflog. Leslie bekam seine Gitarren zurück und der Pfaffe landete im Knast. So hat es mir Leslie erzählt. Ob das stimmt, weiß der Geier. Unterhaltsam ist die Story allemal.
Jede Woche fand bei Leslie eine spontane Session satt, je nachdem wer gerade da war. Die Musik konnte man schon draußen auf der Straße hören. Wir Greenhorns standen dann wie bei einer Andacht im Laden und bekamen den Mund nicht mehr zu. So war das.
Es muss jedoch wohl schon vor dem Einbruch so gewesen sein, dass Leslie Schwierigkeiten hatte, sich und den Laden über Wasser zu halten. Seine lockere Geschäftsmentalität führte dazu, dass er immer mehr in die roten Zahlen rutschte. Angeblich hätte er nicht nur einmal fast zugemacht. Und so kam seine Frau Sonja mit ins Spiel, die Geschäftsführerin wurde und fortan das Geschäft leitete. Ohne Sonja wäre wohl schon viel früher Schluss gewesen. Das Geschäft wurde umbenannt und hieß von nun an Links Musical Instruments.
Sonja & Leslie
Ich kaufte meine erste Martin bei Leslie. Die D35 kostete 2.000 DM und ich gab eine Gibson J45 für 1.000 DM in Zahlung. Später folgten noch andere Instrumente, darunter der erste Amp, ein LAB L7 und die erste Lowden, die ich später an meine sehr talentierte Gitarrenschülerin Andrea Fahn verkaufte. Sie hat sie heute noch. So ging es jahrelang weiter. Der Laden wurde größer. Mit insgesamt vier Räumen, stellte Leslie in den 80ern die teuersten Fender Custom Shop Gitarren und Verstärker zum Verkauf. Inzahlungnahme war Schnee von Gestern. Von nun an gab es nur noch neue Instrumente in allen Preiskategorien. Sonjas Geschäftsprinzip sollte sich viele Jahre bewähren.
Doch die Zeiten wurden härter. Mit dem Aufkommen großer Player, wie Thomann und Co. konnten die kleineren kaum noch mithalten. Bis auf Leslie, verschwanden nach und nach alle Musikgeschäfte in Hanau. Zwischendurch zog Bayer mit seinem Laden schräg gegenüber in die gleiche Straße, wo Leslie war, was für einen großen Lacher bei uns Musikern sorgte. Lange blieb er jedoch nicht.
Die 90er waren für Sonja & Leslie noch gute Jahre, denke ich. Ab 2000 ging es jedoch langsam aber sicher downhill. Lange bevor ich 2005 nach Irland auswanderte, hatte ich kaum noch Kontakt zu Leslie, weil ich nicht mehr in Hanau wohnte und meine Gitarren woanders kaufte. Bingenheimer & Kortmann in Oberursel waren jetzt meine erste Wahl. Doch auch das ging irgendwann mal vorbei, ist aber eine andere Geschichte.
Zehn Jahre später, 2015, war ich wieder zurück und Leslie war immer noch da, was mich sehr freute. Ich besuchte die beiden ein paar mal, kaufte auch einen günstigen Peavey Transistor-Amp für sage und schreibe 230 Euro. Der Laden hatte sich verkleinert. Leslie hatte zwar immer noch gute Gitarren, Verstärker und Effekte aber nicht mehr die große Auswahl wie früher. Vor allem war das teure Segment nicht mehr im Angebot. Die meisten Gitarren lagen bei unter 1.000 Euro. Natürlich gab es noch das eine oder andere teure Stück, doch das war eine Ausnahme.
Über was ich mich am meisten freute war jedoch Sonja & Leslies politische Einstellung und ihre Sicht aufs Leben. Genauso wie ich waren sie sogenannte Schwurbler und Querdenker. Stundenlang unterhielten wir uns über Politik. Gerade Sonja war, was das anging Feuer und Flamme. Mit ach und krach überstanden sie die Corona-Zeit und es schien, als würde der Laden trotz aller widrigen Umstände immer weiter laufen. Es schien, als könnte ihnen nichts und niemand ans Bein pissen. Wenn ich sie jetzt besuchte, kam ich nicht nur wegen der Musik und der Instrumente, sondern vielmehr um zu sehen wie es ihnen ging, um über Politik zu reden und über das, was ihnen in dieser total verrückten Zeit alles widerfuhr. Mehr denn je, fühlte ich mich zu ihnen hingezogen. Wir wurden Gesinnungs-Komplizen, partners in crime und verstanden uns prächtig.
Und dann wurde Sonja krank.
Sonja bekam schwarzen Hautkrebs. Der Tod kam mit schnellen, unaufhaltsamen Schritten. Ich weiß noch, als ich sie das letzte mal sah. Sie wirkte sehr niedergeschlagen und desillusioniert. Wir unterhielten uns über ihren Gesundheitszustand, über Ärzte, Behandlungsmethoden und Operationen. Obwohl sie nicht gut aussah, hatte ich das Gefühl sie hätte die Krankheit überwunden. Zumindest war das ihre Aussage.
Sonja starb im Frühjahr 2024. Ihr Tod besiegelte das Ende des Ladens, denn obwohl Leslie weitermachen wollte, schaffte er es nicht ohne sie. Ich war noch einmal dort, um Leslie mein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Als ich durch die Tür kam, saß Leslie gerade im Büro mit einem großen, gemalten Bild von Sonja vor sich auf dem Schreibtisch. Wir umarmten uns und Leslie kamen die Tränen. Mir ebenso. Wir unterhielten uns über alte Zeiten, die Gegenwart und die Zukunft. Leslie wirkte gefasst, aber ich konnte ihm seine Trauer und Angst ansehen. Angst darüber, wie es weitergehen sollte. Fünfzig Jahre waren Sonja & Leslie unzertrennlich gewesen. In diesem Jahr hätten sie ihr fünfzigjähriges Geschäfts Jubilläum gefeiert. Wir telefonierten noch einige male, bis es dann plötzlich ganz still wurde. Ich hörte nichts mehr von Leslie. Meine Anrufe blieben unbeantwortet.
Irgendwann postete Leslies Enkel Joel auf FB, dass der Laden endgültig dicht gemacht hätte. Still und leise ging so eine Ära zu ende und Hanau hat jetzt kein einziges Musikgeschäft mehr. Ich weiß nicht, wo Leslie abgeblieben ist und wie es ihm geht.
Ich hoffe, es geht dir gut, mein guter, alter Freund.
Zum Ende dieses Beitrags fällt mir folgender Aphorismus von Helmut Glaßl ein:
"Wir sollten alle endlich daran arbeiten, die guten alten Zeiten durch bessere neue Zeiten zu ersetzen."
Goodbye Sonja. Goodbye Leslie's Guitar Village.
Ich habe die schönsten Jahre meiner Jugend unter anderem auch bei Leslie verbracht. Die Geschichten, die ich dort erlebte bleiben unvergesslich. All das zu erzählen, würde hier den Rahmen sprengen.
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