Dienstag, 27. September 2022

Die RAF hat euch lieb


„Erst in Siebzigerjahren wurde die antiautoritäre Jugendrevolte zu einer wirklichen Massenbewegung. Diese dem Augenschein nach zersplitterten Erscheinungsformen in viele verschiedene Gruppierungen bahnten sich ihren Weg in alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Zusammen bildeten sie eine große Bewegung mit tausenden Armen, in der alle miteinander verbunden waren. Die geistige Heimat der 68er blieb also erhalten. Das neue Bewusstsein wuchs bis in jedes Dorf von der Flensburger Förde bis nach Bayern. Irgendwann mündeten die 68er Ideen und die Personen aus den vielen linksbewegten Gruppierungen in die Grüne Partei, strömten auch in die SPD und zu den Jusos. 1998 wurden die 68er mit Gerhard Schröder, Otto Schily und Joschka Fischer Bundesregierung und dies solange, bis Angela Merkel sich 2005 an die Spitze der Bewegung gelangte und die Ziele der 68er und der Grünen umsetzte. Fünfzig Jahre 68er Ideologie, Fünfzig Jahre 68er Sieg in Permanenz. Eine Siegerideologie, die für jedermann in allen Lebensbereichen die richtige Antwort auf jede Frage weiß, sozusagen die verpopte Variante des wissenschaftlichen Sozialismus.

Und die Bewegung rollt, findet immer neue Betätigungsfelder, immer neue Imperative: Vietnam!, und wenn man darauf keine Lust mehr hat, Palästina!, und wenn man darauf keine Lust mehr hat: Feminismus, Abtreibung, neue Ostpolitik, Sexbefreiung, Abschaffung der Familie, Abschaffung aller Autoritäten, und wenn man darauf keine Lust mehr hat, gibt es den Kampf gegen das Waldsterben für Lurche und Kröten. und wenn man darauf keine Lust mehr hat, muss das Auto weg und wenn man darauf keine Lust mehr hat, bekämpft man die Kapitalisten und wenn man darauf keine Lust mehr hat, ist man für Flüchtlinge und wenn man darauf keine Lust mehr hat, wird man schon was neues finden. Nur die eigentliche Arbeit, das tägliche Geschäft, die schnöde Volkswirtschaft, das interessiert die Ideologen nicht. Denn der Strom kommt aus der Steckdose, das Geld von der Bank, die Milch aus dem Supermarkt, der Urlaub aus dem Katalog. Weil 68 das Normalnull in dieser Gesellschaft ist, ist es schwer das Phänomen 68 zu beschreiben. Wir sind immer noch mitten drin in 68. 68 ist weitergegangen, hat sich angepasst, modifiziert, hat sich immer neue Themen auf die Fahnen geschrieben. Statt des Staates wurde die Revolution, wurde die Protestkultur zur eigentlichen neuen Identifikationsgröße für die Menschen in der Bundesrepublik und im ganzen Westen. Die Revolutionäre, die Protestierer, die Fingerzeiger, die Ankläger, die Forderungssteller sind die geradezu diktatorischen Immer-Rechthaber und müssen weder ihren eigenen Status, ihre Ausbildung, ihren Beruf, ihre Vergangenheit, frühere Taten und Reden noch irgendeine Mindestqualifikation nachweisen.“


Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl in „Die RAF hat euch lieb!“, 2018

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