Freitag, 29. Juni 2012

Freakshow


Diese Woche

Ich stehe in meiner lane so wie jeden Tag. Da kommt so'ne Frau vorbeigeschlichen und ich merke irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sieht zuerst ganz normal aus, doch dann sehe ich die Socken, die sie unter ihren Sandalen traegt und weiss auf einmal: die ist nicht ganz dicht! Ploetzlich bleibt sie stehen und rotzt Hassan direkt vor die Fuesse. Hassan ist Sudaner und schwarz. Er arbeitet als Tellerwaescher in dem Kafe gegenueber und hat gerade Zigarettenpause. Spaeter: genau da, wo vorher Hassan sass, sitzt jetzt Davey, ein guter Bekannter aus der lane. Ploetzlich kommt die Bekloppte wieder und redet diesmal auf Davey ein. Dabei beugt sie sich runter und atmet ihm direkt ins Gesicht. Davey versucht sich wegzudrehen aber sie folgt seinen Bewegungen. Als sie endlich verschwindet erzaehlt Davey, sie waere eine aus der Anstalt, die normalerweise keine Freigaengerin sei. Anscheinend habe man sie heute mal rausgelassen. Sie haette zu ihm gesagt, er solle sich vor dem Schwarzen hier in Acht nehmen. Alle nigger waeren Diebe und Moerder! Danach fragte sie ihn, ob er sie nicht ficken wolle!

Davey kennt sogut wie jeden Patienten hier. Seine Freundin Brenda ist selber manisch depressive Alkoholikerin. Letzte Woche hatte Brenda einen relaxten Abend mit Duftkerzen und Meditationsmusik. Dabei schlief sie ein ... und die Vorhaenge fingen Feuer! Als Davey durch die Tuer kam, brannten sie schon lichterloh, waehrend Brenda friedlich in ihrem Bett lag und traeumte. Nachdem er das Feuer geloescht hatte gab er ihr einen Tritt. Brenda wurde hysterisch und bekam einen Nervenzusammenbruch.

Waehrend wir so dastehen und reden kommt ein Typ vorbei und sagt hallo. Daraufhin erzaehlt Davey, dass dieser Typ eigentlich im Knast sein muesste. Er wurde zu sechs Jahren verurteilt, weil er die Leiche seines Freundes 14 Tage lang in der Wohnung versteckt hatte. Der Freund starb an einem Herzinfarkt und der Typ (auch manisch depressiv) bekam einen Schock. Er meldete den Freund als vermisst. Die Garda suchte zwei Wochen, waehrend der Kumpel langsam verfaulte. Irgendwie mussten sie gemerkt haben, dass da was faul war und durchsuchten die Wohnung. Man fand die Leiche unter dem Bett. Anscheinend wurde die Haft ausgesetzt, weil der Typ laeuft immer noch frei rum.

Daraufhin erzaehle ich Davey von dem Irren, der vor einigen Jahren auch freigaengermaessig direkt aus der Anstalt rueber in das Auburn Lodge Hotel ging und eine Bedienung mit dem Messer angriff. Nachdem er zwei Jahre weggesperrt wurde, laeuft er wieder frei rum. Er kommt jetzt jeden Tag vorbei, setzt sich vors Kafe und raucht seine Kippe. Die Maedels drinnen schieben voll die Panik und trauen sich nicht raus! Am liebsten kommt er Mittwochs. Dann ist Zahltag und alle Bekloppten sitzen da, versaufen ihr Geld vom Sozialamt, das sie vorher beim Postamt abholen und verticken ihre vom Arzt verschriebenen Medikamente an irgendwelche Drogies. Ich liefere dazu die Begleitmusik. Mein Publikum besteht dann groesstenteils aus Bekloppten. Ella nennt sie outlaws. Mittwoch ist outlaw-day.

Brenda ist uebrigens mein groesster Fan. Sie schenkte mir einen Gitarrengurt auf dem steht "Ned is the best". Ausserdem gab sie zu, dass sie auf mich abfaehrt. I have a little crush on you, wie sie sagte.

Ich frage Davey, ob es diese Irren nur hier in Ennis gibt oder auch landesweit. Er lacht und sagt: oh they are everywhere! Ich sollte mal nach Kilkenny gehen, da wuerden sie ueberall rumhaengen, vor allem in den Kafes. Ennis waere nichts dagegen. Ich frage, warum ist das so? Warum laufen die Irren frei durch die Gegend?

Davey meint, dass vor ung.10 Jahren im Rahmen einer Sozialreform beschlossen wurde alle grossen Irrenanstalten dicht zu machen und die Insassen auf die Menschheit loszulassen. Bestes Beispiel dafuer ist das Our Lady's Hospital hier in Ennis. Bis 2003 noch in Betrieb, steht es jetzt leer. Ein riesiger Bunker, den neimand haben will, weil es ein Stigma hat und Leute glauben, dass es dort spukt. Wo heute noch ein elektrischer Stuhl im Keller und einer im Turm steht. Wo frueher 400 Patienten mit Elektroschocks behandelt wurden. Darunter viele, die dort garnicht reingehoerten: Opfer irgendwelcher Landdispute oder Frauen, die sich ihren Maennern wiedersetzten, sich scheiden lassen wollten. Frauen, die heimlich abtrieben. Menschen, die gesund eingeliefert wurden und danach komplett durchdrehten! Einer flog ueber das Kuckucksnest in Real. Die laufen jetzt mehr oder weniger frei rum. Landesweit. Irrland wurde zu einer riesigen Irrenanstalt. Deshalb auch Irrland und nicht Irland.

Wir stehen also da und reden. Ploetzlich kommt ein Frettchen dahergetrippelt. Ein ziemlich grosses Exemplar. Nicht etwa schnell, sondern ziemlich langsam, verwirrt, desorientiert. Irgendjemand schreit: Das ist das Vieh das schon seit einer Woche gesucht wird. Schnappt es! Leichter gesagt als getan. Als ein Passant seine Jacke auszieht, es ueber das Fretchen wirft und es mit den Haenden packt, beist es seinen Finger und ergreift panisch die Flucht! Spaeter kommen die Besitzer, irgendwelche Osteuropaeer und erkundigen sich im gebrochenem Englisch in welche Richtung ihr Frettchen davongelaufen ist.


Letzte Nacht

Ich bin gerade eingeschlafen als ich Schreie und Schuesse hoere. Als ich aus dem Fenster schaue sehe ich wie Barney, einer unserer Traveller-Nachbarn aus dem Haus stuermt, in seinen Pritschenlaster steigt, ein Stueck nach vorne faehrt und danach volles Rohr rueckwaerts gegen die Hauswand rast! Das macht er zwei mal. Danach faehrt er weg. Seine Frau laeuft schreiend zu unseren Nachbarn. Ich zieh mir was an und gehe raus. Emma, unsere Nachbarin erzaehlt, Barney war auf der Hochzeitsfeier der Joyce Famlie. Dort erzaehlte ihm irgendjemand, seine Frau haette ihn betrogen. Danach drehte Barney durch. Mittlerweile stehen sogut wie alle Nachbarn draussen und glotzen. Ich ebenso.

Eben war ich wieder draussen und habe Fotos gemacht. Der Hausbesitzer und eine Garda-Beamte stehen dabei. Die Nachbarin zwei Tueren weiter kommt raus und erzaehlt, wie sie die Nacht erlebt hat. Sie dachte eine Bombe waere explodiert. Zuerst hoerte sie Schreie und Schuesse. Danach wackelte das Haus wie bei einem Erdbeben und sie bekam fast einen Herzinfarkt! In zwei Wochen zieht sie hier weg. Und wie wir so im Regen stehen frage ich den Hausbesitzer warum er verdammt nochmal an Traveller vermietet? Er sagt, am Anfang waeren sie ganz in Ordnung gewesen. Doch jetzt sieht die Sache anders aus. Er weiss nicht, ob das Haus repariert werden kann. Wahrscheinlich ist es unbewohnbar.


Das Haus nebenan ist unbewohnbar. Dort wohnte ein Typ, der seine Mortgage nicht mehr zahlen konnte. Die Bank nahm ihm das Haus weg. Aus Frust liess er das Wasser im Bad oben im ersten Stock laufen und verpisste sich. Danach stuerzte die Decke ein! Das Haus ist jetzt eine Ruine.

David Joyce, ein Traveller in der gleichen Hausreihe sass wegen Einbruch und taetlichem Angriff zwei Jahre im Knast. Vor kurzem kam er auf Bewaehrung raus. Ein ganz netter Typ. Ich hatte oft mit ihm zu tun, weil ich ihnen ihr Pony abkaufte. Wir unterhielten uns oft ueber Pferde und Hunde. Vor einiger Zeit besorgte er sich ein Windhund-Weibchen. Wahrscheinlich wollte er seine Miniature-Jack Russel Zuechtung auf Windhunde erweitern. David wurde rueckfaellig und sitzt jetzt wieder.

Unser Nachbar right next door ist Bauarbeiter und arbeitslos. Als er letztes Jahr fuer einen Bekannten das Haus sanierte wurde er dafuer nach getaner Arbeit nicht bezahlt. Der Bekannte schuldet ihm €30.000, hat seine Frau sitzen lassen und ist nach Amerika abgehauen. Unser Nachbar versuchte aus verzweifelter Geldnot seinen Jeep zu verkaufen. Schliesslich muss er wie viele andere hier sein Haus abbezahlen. Er hatte jedoch kein Glueck. Niemand wollte €11.000 fur den Jeep ausgeben. Da kam ihm eine andere Idee! Er voegelte die Frau seines Arbeitgebers im Jeep und erpresste sie hinterher. Entweder sie gibt ihm die Kohle oder er wuerde die Voegelei, die er mit einer versteckten Kamera aufgenommen hatte an ihre Familie weiterleiten. Die Frau ging direkt zur Garda und unser Nachbar bekam sechs Monate auf Bewaehrung. Die Story stand in der Zeitung, mit Namen, Bild und Adresse. Der Jeep ist jetzt weg und der Nachbar auch. Seine Frau und die zwei Kinder sind noch hier. Sie wusste nichts davon und erfuhr es von einer Kassiererin im Supermarkt. Ich werde nie die Schreie vergessen, die wir von drueben hoerten.

Spaeter liege ich wieder im Bett und versuche einzuschlafen. Komischerweise geht mir der Wanderer durch den Kopf. Ich stelle ihn mir in einer Irrenanstalt vor, an einen Stuhl gefesselt ... und waehrend ihm die Weisskittel Elektroschocks verabreichen, schreit er seine 13 Gruende, warum wir Irland lieben in ihre Gesichter.

Jetzt sitze ich hier. Der Juni ist bald vorueber. Der Sommer auch und es regnet wieder mal in stroemen.

Ich hasse dieses Land.


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