Samstag, 26. Januar 2019

Margaret Thatchers Vorahnung für Deutschland

Von LISA MARIE KAUS ZUERST ERSCHIENEN AUF ACHSE DES GUTEN

Als ich mit meinen britischen Kolleginnen, die alle im Europäischen Parlament arbeiteten, vor einiger Zeit zusammensaß, erzählte eine von ihnen, in einem befremdeten und verständnislosen Ton, von einer Begebenheit in ihrer WG. Die Wohngemeinschaft bestand aus mehreren jungen Berufstätigen unterschiedlicher Nationen, die alle in der Brüsseler EU-Blase arbeiteten. Ein Zimmer war von einer Praktikantin bewohnt. Wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hatte, arbeitete diese beim Front National (der damals noch so hieß). Das war jedoch nicht das, woran sie Anstoß nahm. Sie war gänzlich irritiert von den Bemühungen ihres deutschen Mitbewohners, die achtzehnjähre Praktikantin aus der Wohnung zu schmeißen. Er hatte Initiative ergriffen und den Vermieter aufgefordert den Vertrag mit ihr zu kündigen und dabei explizit auf ihren politischen Hintergrund verwiesen.

Meine Kolleginnen verfügten über die Eigenschaft, die man braucht, wenn man in der Politik arbeiten will und dennoch ein glückliches Leben führen möchte: sie waren zum größten Teil unpolitisch. Sie hielten alle am Tisch genau so wenig von der UKIP wie vom FN. Dennoch stimmten sie sofort und mit einer Selbstverständlichkeit darin überein, dass dieses Verhalten undemokratisch und zu verurteilen sei. Verstehen konnte keine, was den Deutschen antrieb. Die Entmenschlichung der Praktikantin hatte meine Kollegin zutiefst empört. Seitdem – und durch das leidenschaftslose Gekicke der deutschen Fußballnationalmannschaft – halte ich bei Länderspielen zu England.

Ich habe diese Geschichte in Deutschland mehrfach erzählt. Niemand war je empört – alle fanden das Verhalten des Deutschen richtig. Mein Ergebnis ist unter Umständen verfälscht, immerhin lebe ich in Berlin, aber ich bin mir sicher, diese selbstverständlich-tolerant-demokratische Grundhaltung, die meine britischen Kolleginnen an diesem Abend zeigten, findet man so kaum hier in Deutschland. Sie scheint nicht Teil der Kultur.

Der Nationalsozialismus war kein Betriebsunfall

Was macht sie aus, die Kultur Deutschlands? Warum kommt mal wieder kein anderes Land der Welt darauf, ein Dieselverbot zu erheben, ohne rationale Argumente gelten zu lassen? Warum zieht kein anderes Land auf der Welt den Wechsel zu „grünen“ Energien so fanatisch durch? Warum war es wieder mal Deutschland, das in seinem Alleingang 2015 Europa in die Migrationskrise stürzte und warum ist vier Jahre später Deutschland immer noch überzeugt dabei, während die paar anderen Länder, die anfänglich miteinstimmten, längst wieder verstummt sind? Warum verschreiben sich in Deutschland wieder Politiker den Osten Europas zu zivilisieren?

Warum ist dieses Land – das nur 601 Gerechte unter den Völkern (1) aufweisen kann, obwohl es doch die längste Zeit Gelegenheit zum Aufbegehren hatte, während Polen mehr als 10 Mal so viele zählt – plötzlich gefüllt mit „Antifaschisten“ die todesmutig #Nazisraus twittern? Was ich sagen will: Der Nationalsozialismus war kein Betriebsunfall. Als ich 2015 die ergriffenen und euphorisch klatschenden Menschen an den Bahnhöfen in der Tagesschau sah, habe ich Goldhagen verstanden.

Natürlich lässt sich dies alles nicht fassen. Die Frage nach nationalen Charakteristika ist wissenschaftlich nicht zu beantworten und ein ganzes Volk kann man nicht verurteilen. Viele werden Gegenbeispiele im Bekanntenkreis nennen oder auf ausufernde Entwicklungen in anderen Ländern hinweisen können – wohlgemerkt, auch meine französischen Freunde verstanden die Empörung der Briten nicht.

Gleichfalls möchte ich nicht dem Historizismus verfallen und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten propagieren oder von einer einzelnen Beobachtung auf eine ganze Theorie schließen. Der Historiker Gordon A. Craig fasst das Scheitern der Bemühung einer Suche nach nationalen Eigenschaften in der Einleitung zu einer politischen Geschichte der preußischen Armee so zusammen:

„Einem Volke Nationaleigentümlichkeiten zuzuschreiben, ist in jedem Fall eine gewagte Sache, und Schlußfolgerungen, die aus solcher Beimessung gezogen werden, können leicht in nichts zusammenfallen. Daß in neuerer Zeit autoritäre Regierungsform, Militarismus und Aggression das deutsche politische Leben und Handeln kennzeichneten, läßt sich kaum bestreiten. Dieses Buch geht jedoch von der Grundthese aus, daß derartige Dinge dem deutschen Charakter keineswegs angeboren, sondern vielmehr – um mit Franz Neumann zu sprechen – ,Ergebnisse einer Struktur sind, welche die Versuche zur Schaffung einer lebensfähigen Demokratie vereitelte‘.“ (Gordon A. Craig, Die preußisch-deutsche Armee 1640-1943. Staat im Staate, Düsseldorf 1960, S. 11) Es geht eben gerade um diese Struktur.

Neigung zur Überschätzung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten

Die Frage „Was lehrt uns die Geschichte über Charakter und Verhalten der Deutschen und haben sie sich in den letzten vierzig Jahren verändert?“ stellte Margaret Thatcher im März 1990, nachdem sie sich mehrfach ablehnend gegenüber der Wiedervereinigung Deutschlands gezeigt hatte, amerikanischen und britischen Deutschlandexperten. Vier Historiker (u. a. der oben zitierte Gordon A. Craig) und zwei Journalisten lud sie in ihren Landsitz Chequers ein, um diese und andere Fragen informell zu besprechen. Die Zusammenfassung des „Seminar on Germany“ veröffentlichte das britische Nationalarchive 2016. Es ist hier nachzulesen.(2)

Wie Teilnehmer des Treffens im Nachhinein betonten, sei das Dokument durch den Privatsekretär Thatchers, C. D. Powell, teils zugespitzt und mit einer gewissen Ironie verfasst. So steigt die Zusammenfassung gleich mit der Beschreibung der nationalen Attribute der Deutschen, die sich in der Vergangenheit gezeigt hätten, ein: „Ihr fehlendes Einfühlungsvermögen (zeigt sich besonders in ihrem Verhalten bezüglich der polnischen Grenze), ihre Obsession mit sich selbst, ein starker Hang zum Selbstmitleid, und das Verlangen gemocht zu werden.

Einige noch weniger schmeichelhafte Eigenschaften wurden genannt als beständiger Teil des deutschen Charakters: in alphabetischer Reihenfolge, Angst, Aggressivität, Bestimmtheit, Drangsalierung, Egoismus, Minderwertigkeitskomplex, Sentimentalität.“(3) Das Dokument fährt fort: „Zwei weitere Züge des deutschen Charakters wurden im Blick auf die Zukunft als Gründe zur Sorge genannt. Erstens eine Fähigkeit zum Exzeß, zur Übersteigerung der Dinge, zum Überdiesträngeschlagen. Zweitens eine Neigung zur Überschätzung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten.

Ein Beispiel dafür, das die nachfolgende deutsche Geschichte erheblich beeinflußt hat, war die Überzeugung, daß der Sieg über Frankreich im Jahre 1870 Ergebnis einer tiefen moralischen und kulturellen Überlegenheit gewesen sei, statt – wie tatsächlich – eines bescheidenen Vorsprungs in militärischer Technologie.“ (Übersetzung Gordon A. Craig) Der Historiker Gordon Craig bekannte sich in einer Stellungnahme 1991 dazu, dies sinngemäß gesagt zu haben, distanzierte sich aber – wie alle teilnehmenden Historiker – davon, den Begriff Nationalcharakter in den Mund genommen zu haben.

Old habits die hard.

Neben der einleitenden Bestimmung gewisser, aus der Geschichte ableitbaren, Eigenschaften, stellten die Historiker im Laufe des Gespräches heraus, dass die Vorbehalte der Premierministerin dem Deutschland nach Bismarck und bis 1945 gelte, dass die Zeit danach jedoch eine Zäsur darstelle. Sie betonten, Deutschland habe aus den Verbrechen der Vergangenheit gelernt, sich intensiv damit beschäftigt und sei somit keine unkontrollierbare Gefahr mehr – selbst als wiedervereinigte Nation. Deutschland habe sich in den letzten vierzig Jahren geändert. Thatcher blieb skeptisch bis zuletzt, erwies sich aber als einsichtig. Die FAZ und die ZEIT berichteten mit Verweis auf das Chequers-Seminar (der Fragebogen, der im Vorfeld an die Experten gesendet worden war, war zur Presse durchgesickert), die Experten hätten Thatcher, bezüglich der Wiedervereinigung, milder gestimmt.

Würden die Experten das gleiche Fazit heute ziehen? Die letzten Jahre liefern eine Vielzahl an Beispielen, in denen Deutsche ihren Hang zum Exzess, zur Übersteigerung der Dinge auslebten. Ich vermute mal kaum eine Organisation kommt im Januar, im Grußwort an ihre Mitarbeiter zum neun Jahr, ohne eine Anbiederung an den politischen Mainstream aus. Jeder Redakteur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, jeder hochrangige Beamte, jeder etablierte Politiker ist ein kleiner McCarthy. Mit dem Unterschied, dass sich die amerikanische Gesellschaft nach einigen Jahren eines Besseren besann. In Deutschland korrigiert man Fehler nicht – am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Let’s agree to disagree gibt es im Deutschen nicht. Und was fast besser die Neigung zur Überschätzung der eignen Kräfte und Fähigkeiten zusammen als „Wir schaffen das“?

Old habits die hard. Friedrich Wilhelm Foerster, dessen Bücher unter den ersten Werken waren, die die Nationalsozialisten verbrannten, schrieb 1937: „Deutschland war immer schon das große Laboratorium, in dem die Hypothesen der ganzen Welt bis zu Ende durchgeprüft, durchgedacht, durchgelitten wurden.“ Hitler, so Foerster, schrecke bei seiner Anwendung des europäischen Nationalitätenprinzips, im Gegensatz zu den anderen Ländern, vor keiner Folgerung zurück. Haben wir wenigstens – wie es die Historiker und Journalisten 1990 Thatcher darlegten – aus der Vergangenheit gelernt? Beschäftigte sich Deutschland wirklich so intensiv mit seinen Verbrechen und ist es sich seiner Fehler, die zu dieser menschengemachten Katastrophe führten, wirklich bewusst?

Ich bin kein Historiker, habe aber das deutsche Bildungssystem durchlaufen. Der Nationalsozialismus war für meine Klassenkameraden weit weg. Man stöhnte eher, sich jedes Jahr wieder mit diesem Teil der Geschichte befassen zu müssen. Wobei, so wirklich befassten wir uns nie damit. Es blieb immer im Abstrakten. Die Gräuel des Holocaust sind für einen Achtklässler nicht zu begreifen. Die Geisteshaltung, die den Boden zur Massenvernichtung ebnete, wurde vereinfacht dargestellt – wie etwa in der Pflichtlektüre „Die Welle“ – ohne dass es je persönlich, unangenehm wurde. Die Ausgrenzung, aufgrund der Augenfarbe, war so lächerlich, dass wir uns alle im Widerstand wähnten. Mit uns hatte das alles nichts zu tun.

Deutschland hat sich zwar ein Mahnmal in das Zentrum seiner Hauptstadt gebaut, das „warum wir“ aber nie beantwortet; nie beantworten wollen. Die Re-education kam von oben, verinnerlicht wurde sie nicht. Wir haben in der Schule nie gelernt, dass die Lehre aus der Vergangenheit ist, dass wir uns stets für einen offenen Diskurs einsetzen müssen und niemals die Gegenseite entmenschlichen dürfen. Stattdessen haben wir gelernt was gut – links – und was schlecht – rechts – ist und an wen wir uns halten müssen, um die Dinge entsprechend einzuordnen. Wir wurden weiterhin zu Untertanen erzogen.

Bereits 1996 revidierte einer der Teilnehmer, der Historiker Norman Stone, in einem Zeitungsartikel in der Sunday Times mit der Überschrift „Germany? Maggie was absolutely right“, seine positive Haltung. Auf dem Weg zur Währungsunion sei er wieder da, der alte deutsche Führerkult. Ungeachtet fachlicher Einwände von Seiten deutscher Wirtschaftswissenschaftler sei die Politik der Bundesrepublik längst auf Linie gebracht, das Projekt Währungsreform werde fanatisch durchgezogen. Deutschland sei fest entschlossen seinen Selbsthass, der ihm alles Nationale verwehre, in Form eines europäischen Deutschlands zu kompensieren. Er bedauerte, dass die anwesenden Experten nicht auf das Bauchgefühl der Premierministerin vertraut hatten.

Dabei schloss die Zusammenfassung des Treffens in Chequers nicht ganz so optimistisch, wie es der Artikel Stones vermuten lässt (vielleicht schlug hier wieder die Haltung des Privatsekretärs C. D. Powells durch): „Aber selbst die Optimisten verspürten ein gewisses Unbehagen, nicht mit Blick auf die Gegenwart und die nahe Zukunft, aber bezüglich dem, was noch auf uns zukommen könnte.“ (4) Nicht nur der Fall Relotius hat gezeigt, dass die Deutschen wieder dabei sind, Wahrheit, Prinzipien und Freiheit einem höheren Ziel unterzuordnen – und alle marschieren mit. Die Folgen für Europa könnten verheerend sein. Margaret Thatcher hatte recht.

...

(1) „Gerechte unter den Völkern“: Eine der wichtigsten Aufgaben von Yad Vashem ist es, Nichtjuden, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu retten, die Dankbarkeit des Staates Israel und des jüdischen Volkes zu übermitteln. Sie werden als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Bis heute haben 26.513 Männer und Frauen diesen Titel erhalten. Darunter sind 601 Deutsche.

(2) In den darauffolgenden Monaten im Jahr 1990 gelangte es trotz der Klassifizierung als „vertraulich“ an die Öffentlichkeit und wurde, in Verbindung mit drastischen Äußerungen gegen Deutschland des britischen Ministers für Handel und Industrie, Nicholas Ridley, in Presse und Politik in Deutschland und Großbritannien heiß diskutiert und sorgte für die sogenannte „Chequers-Affäre“.

(3) Eigene Übersetzung. Englisches Original: „their insensitivity to the feelings of others (most noticeable in their behaviour over the Polish border), their obsession with themselves, a strong inclination to self-pity, and a longing to be liked. Some even less flattering attributes were also mentioned as an abiding part of the German character: in alphabetical order, angst, aggressiveness, assertiveness, bullying, egotism, inferiority complex, sentimentality.”

(4) Eigene Übersetzung. Englisches Original: „But even the optimists had some unease, not for the present and the immediate future, but for what might lie further down the road than we can yet see.”.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.